Hallo liebe, treue Leser,
wir sind wieder alle unten, gesund und erfolgreich. Der Gipfel
des Everest wurde erreicht, die zweite deutsche sauerstofflose
Besteigung, die erste sächsische, die erste ostdeutsche. Mehr
dazu im folgenden Text. Götz erinnert sich an die entscheidenden
Tage:
Götz Wiegand 20. 5. 2001: Wieder einmal habe ich
Geburtstag, und wie immer in den letzten fünf Jahren klettere
ich im Himalaja und verschiebe die Feier auf später im Basislager
oder nach Kathmandu oder nach Dresden. Vor genau fünf Jahren
auf der Nordseite des Everest, kam an diesem Tag das Fax von
der Weltwetterwarte aus Greenwich und versprach Windstille
bis zum 25. Mai in Gipfelnähe. Euphorisch brachen wir auf,
retteten einem Japaner das Leben und mussten in ca. 8 500
m aufgeben.
Ein Jahr darauf verschwand unser gesamtes Expeditionsbudget
in den Taschen der dubiosen "Berggeschäfte-Macher" vom IMC.
Nun der dritte Anlauf zum höchsten Punkt der Welt. Von der
Truppe von 1996 sind außer mir noch Thomas Türpe und Jörg
Stingl dabei. Und an diesem Tag wollen wir von Lager 2 nach
Lager 3 durch das untere Drittel der Lhotse-Flanke klettern.
Beim Abmarsch aus Lager 2 werden wir vom Leiter einer indischen
Militär-Großexpedition angehalten. Wieviele Sherpas wir hätten
und ob wir wüssten, dass am Südostgrat nur bis ca. 8 400 m,
also bis zum sogenannten Balkon, brauchbare Fixseile liegen
würden. Außerdem sei der Schnee an vielen Stellen hüfthoch.
Es ist das alte Problem, die großen Expeditionen mit riesigen
Budgets, zahlreichen Sherpas und jeder Menge Sauerstoff-Flaschen,
Inder, Amerikaner und internationale Kommerzielle belauern
sich seit Wochen argwöhnisch. Niemand will die Route eröffnen,
damit den Konkurrenten den Weg ebnen, selbst vielleicht Kraft
verlieren und dann beim entscheidenden Wetterloch zu spät
kommen. Allerdings verkennen alle nun die entscheidende Tatsache.
Es zeichnet sich jetzt zum ersten und garantiert auch zum
letzten Mal für dieses Frühjahr eine dreitägige Periode mit
gutem Wetter ab. Also jetzt oder nie!
Wir setzen unsere Pokergesichter auf und beginnen mit den
Indern zu verhandeln. Wir haben weder Sauerstoff noch sollen
unsere beiden Sherpas über das Lager 4 hinaus klettern. Notfalls
werden wir den Grat eben ohne Fixseile klettern. 20 m "Strick"
haben wir einstecken. Aber mit einer starken Gruppe, die am
selben Tag den Gipfel versucht zu steigen, ist natürlich unsere
Chancen. Bei so einer Verhandlung, bei der man selber eigentlich
überhaupt nichts zu bieten hat, ist Jörg Stingl einfach unersetzlich.
Hier eine große Geste, dort eine clevere Miene, da ein bezauberndes
Lächeln oder ein strenger Blick. Ich assistiere, so gut ich
kann, und das Unmögliche gelingt. Ohne eigenes Personal stellen
wir eine Truppe von elf Sherpas aus verschiedenen Expeditionen
zusammen, die unter indischer Expeditions-Hoheit die Route
zum Gipfel eröffnen sollen. Ein entscheidender Durchbruch
ist gelungen. Danach klettern wir durch die Lhotse-Westwand
in vier Stunden zum Lager drei. Der Wermutstropfen ist unser
Unvermögen, das Nahrungsmittel-Depot, das wir vor zehn Tagen
auf halbem Weg angelegt hatten, wiederzufinden. Hunger müssen
wir trotzdem nicht leiden. In über 7 000 m Höhe essen wir
alle nicht mehr allzu viel, und im Camp liegen noch ein paar
Lebensmittel. Abends, schon im Schlafsack liegend, übermittelt
mir Meutz viele Geburtstagsgrüße aus der Heimat. Wir hoffen
auf gutes Wetter für die nächsten Tage.
21. Mai: Der Tag beginnt
strahlend. Ab 9 Uhr sind wir unterwegs, durch den mittleren
Teil der Lhotse-Westwand über Gelbes Band und Genfer Sporn
hinauf zum höchsten Pass der Erde, dem Südsattel zwischen
Everest und Lhotse. Es sind schon eine ganze Menge Leute unterwegs,
und viele nehmen bereits ab Lager 3 Sauerstoff. Zu unserer
großen Freude können wir tempomäßig sowohl mit den Sauerstoff-Atmern
als auch nunmehr mit vielen Sherpas, deren Überlegenheit in
den unteren Regionen hier oben doch deutlichen Ermüdungs-Erscheinungen
Platz macht, mithalten. Gegen Mittag haben wir bei gutem Wetter
den letzten Anstieg hinauf zum Genfer Sporn bewältigt. Von
hier zieht die Route nur noch sanft ansteigend zum Südsattel.
Sofort erfasst uns der Wind, es wird in Minutenschnelle sehr
kalt, und wir müssen die Daunenjacken anziehen. Im Sattel
treffen wir auf unseren Sherpa Lhakpa, der auf dem Südsattel
unseren Weg nach oben überwachen und in Notfällen Hilfe leisten
soll. Er wird in der Nacht Sauerstoff atmen und hat bereits
eines unserer beiden Zelte aufgebaut. Leider falsch - und
so fechten wir in den nächsten beiden Stunden mit dem immer
stärker werdenden Sturm einen harten Kampf um unsere beiden
Zelte aus, ehe sie fest verankert sind. Mir kommen immer stärkere
Zweifel, ob bei solchem Wetter eine sauerstoff-freie Begehung
des höchsten Berges der Erde überhaupt möglich ist. Irgend
ein Kletterer hat mal geschrieben: " . . . falls es einen
unwirtlicheren Platz auf Erden, als den Südsattel am Everest
gibt, dann möchte ich diesen nie kennenlernen." Dem kann ich
nur zustimmen. Als ich mich ein wenig von unseren Zelten entferne,
einem menschlichen Bedürfnis folgend, stolpere ich wenige
Meter entfernt über einen toten Bergsteiger, der schon sehr,
sehr lange dort liegt. Niemanden, mich eingeschlossen, scheint
das besonders zu kümmern. Am Everest gehört der Tod wohl sehr
eng zum Bergsteigen dazu. Im Zelt beginnen die Vorbereitungen
zum Aufstieg. Wir wollen gegen 23 Uhr los und müssen noch
viel kochen. Flüssigkeit ist immens wichtig. Je mehr, umso
besser. Mich beunruhigt nach wie vor der starke Wind, außerdem
fühle ich mich irgendwie unwohl. Starker Husten (Okay, den
habe ich immer an einem Achttausender), leichte Kopfschmerzen
und ein Gefühl, dass es nicht richtig für mich ist, in dieser
Nacht loszugehen. Ich beschließe vorerst, auf den Aufstieg
zu verzichten. Thomas und Jörg schauen nicht gerade glücklich
drein, als ich ihnen meinen Entschluss mitteile.
Frank
Meutzner über den 21. Mai, abends, und den 22. Mai "Beobachter":
Thomas und George brechen trotz starkem Wind gegen 23.30 Uhr
auf, nachdem es Thomas gelungen ist, Sherpas und Kletterer
zeitlich zu koordinieren. Sie hoffen, dass sich der Wind noch
legen wird. Im Windgeheul steigen sie hinter anderen Expeditionsteilnehmern
hinterher, die alle Sauerstoff benutzen, die anfangs flachen
Schneefelder, die dann in eine teile Rinne münden. Die beiden
arbeiten sich in mehreren Stunden die Schneefelder und dann
die steile Rinne zum Grat hoch. Die Stelle wird auch als Balkon
bezeichnet, ca. 8 400 m hoch. Danach geht es nahe beim Grat
über Schneefelder entlang zum Südgipfel, der mit ca. 8 750
m angegeben wird. Gegen 13 Uhr erreichen sie diesen Punkt.
Schon über zwölf Stunden sind sie jetzt unterwegs. Thomas
entscheidet sich an diesem Punkt zur Umkehr. Obwohl es nur
noch ca. 80 Höhenmeter bis zum Gipfel sind, ist es noch ein
weiter Weg über den jetzt flachen Grat. Er rechnet noch mit
vier bis fünf Stunden bis zum Gipfel. Doch er will seinen
Aufenthalt in der lebensgefährlichen Höhe nicht länger als
geplant ausdehnen. Eigentlich wollten sie zu dieser Zeit schon
auf dem Gipfel sein. Und so entscheidet er sich für den bestimmt
schwereren Weg - zur Umkehr. Jörg, der den ganzen Tag schon
das Wetter beobachtet hat, ist der Meinung, dass an diesem
Tag ein gutes und stabiles Wetter herrscht. Ein Wetter, wo
man die Umkehrzeit ignorieren kann. Noch dazu weiß man nicht,
ob sich noch einmal so eine Möglich bietet. Fünf Jahre hat
er auf diese zweite Möglich gewartet und will nun ganz nach
oben, obwohl die Vernunft eigentlich zur Umkehr raten würde.
Endlich gegen 17 Uhr erreicht er den Gipfel. Es beginnt schon
zu dämmern. Nur für einen kurzen Moment betritt er den Gipfel.
Von überschwänglicher Freude kann nicht die Rede sein, eher
von Angst, den Abstieg bis ins sichere Lager zu schaffen.
Und es geht nur langsam abwärts, Schritt für Schritt, Meter
für Meter. Weit unten leuchten die Lichter im Camp 4, aber
bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und bald hat ihn die
Dunkelheit völlig ein. Thomas ist inzwischen noch bis ins
Lager 3 abgestiegen. Ole und ich sitzen im Lager 2 und verfolgen
über Funk die dramatische Entwicklung. 15 Uhr gab es letzten
Funkkontakt mit Jörg und unsere Angst, dass etwas passiert
ist, wird immer größer. Aber Jörg ist so mit dem Abstieg und
dem Ziel beschäftigt, das Camp zu erreichen, dass er das Funken
einfach vergessen hat. Und so sitzen wir verzweifelt in Camp
2 und Götz da oben - und wir hoffen und hoffen. Götz beschreibt
den Gipfeltag und die dramatischen Stunden wie folgt, 22.
Mai 2001: Ich liege seit Stunden im Zelt in Lager 4 in fast
8 000 m Höhe. Kochen, trinken, kochen, trinken . . . Gegen
morgen am 22. Mai hat der Wind stark nachgelassen. Ich bin
sehr optimistisch. Am Morgen habe ich Lhakpa nach unten geschickt.
Er hat die Nacht über zwar Sauerstoff geatmet, aber heute
morgen sah er im Gesicht derartig wächsern aus, dass ich sehr
erschrocken bin. Husten und Kopfschmerzen waren weitere beunruhigende
Anzeichen, und so sollte er so schnell und so weit wie möglich
absteigen.
Die ersten Kletterer kommen nun zurück, alle mit Sauerstoff,
und niemand hat es geschafft. Die Sherpas haben nur bis zum
Südgipfel gespurt und gefixt und waren dann zu erschöpft.
Ich habe regelmäßig aller zwei Stunden Funkkontakt mit Thomas
und Jörg. Der letzte Kontakt erfolgt gegen 15 Uhr. Jörg erklärt
mir, er sei nicht mehr weit weg vom Gipfel, aber Thomas sei
umgekehrt, am Südgipfel auf ca. 8 700 m schon vor über einer
Stunde. Er selbst wolle noch etwas weiter klettern, es gäbe
genug alte Fixseile. Jörg klingt sehr müde, er ist allein
und ich bin sehr angespannt. Wir vereinbaren stündliche Funkzeiten.
Kaum haben wir das Gespräch beendet, taucht Thomas am Zelteingang
vom Lager 4 auf. Ich habe Tee fertig, Thomas trinkt und erzählt
mir von seinem Entschluss, am Südgipfel umzukehren. Er fand
es einfach zu spät und wollte, dass auch Jörg mitkommt und
dass beide nicht in die Nacht kommen. Von der Höhe her hätten
beide wohl den Everest ohne Sauerstoff drauf gehabt. Thomas
steigt ins Lager 3 ab, und ich beginne mit Packen. Es ist
inzwischen nahezu windstill, und ich will gegen 21 Uhr mit
den Sherpas einer spanischen Expedition nach oben aufbrechen.
Stündlich rufe ich Jörg per Funk. Das Basislager sowie Meutz
und Ole, die inzwischen in Lager 2 eingetroffen sind, hören
mit und sind genauso beunruhigt wie ich: George meldet sich
nicht! Die Sonne sinkt immer mehr zum Horizont, es wird empfindlich
kalt. Da taucht ein Punkt in der Wand oberhalb Lager 4 auf
und wird rasch größer. Aus der Nähe gesehen, schwinden jedoch
meine Hoffnungen. Es ist nicht George. Als ich den fremden
Bergsteiger anrufe, um nach Jörg zu fragen, winkt er nur ab
und taumelt zu seinen Zelten. Meine Unruhe steigt von Minute
zu Minute. Was tun? Ich gehe hinüber zu den Zelten des letzten
Bergsteigers. Die Sonne versinkt. In den Zelten sind alle
sehr erschöpft, nur ein Sherpa, der den ganzen Tag gewartet
hat, gibt mir Auskunft. Ja, zwei seiner Leute wären heute
als einzige auf dem Gipfel gewesen, beim Abstieg hätten sie
noch einen Bergsteiger getroffen, der nach oben geklettert
wäre. Ja, er hätte eine rote Jacke an, und er hätte keine
Sauerstoffmaske auf. Ich gehe zurück. Es wird finster. Alle
halbe Stunden habe ich Funkkontakt zu Meutz. Mit ängstlichen
Stimmen versuchen wir uns zu beruhigen. Dazwischen wärme ich
immer wieder Tee auf und starre den Everest an, bis mir die
Augen weh tun. Im letzten Tageslicht glaube ich weit oben
eine winzige Gestalt auszumachen - oder war es eine Täuschung?
George kommt nicht. 20 Uhr bin ich voller Angst. Wenn er zu
erschöpft ist, zu lange Pausen macht, sich dabei hinsetzt,
einschläft . . . Ich räume meinen sorgsam gepackten Rucksack
aus - scheiss auf den Gipfel - und packe ihn neu. Sauerstoff,
ein Stück Seil, viel zu trinken, Batterien für die Stirnlampe,
Medikamente. Ich informiere Meutz, dass ich gleich zur Suche
aufbrechen werde. Da, während des Gesprächs, sehe ich den
Schein einer Stirnlampe in der Everest-Wand. Das Funkgerät
fällt mir scheppernd aus der Hand. Die Lampe ist viel zu weit
links. Dort ist keine Route, sind nur Steilabbrüche, Blankeis
und Spalten. In Unterwäsche und Überschuhen stürze ich, mit
der Stirnlampe bewaffnet, in die minus 25 Grad kalte Nacht
hinaus. Zum Glück reagiert der Bergsteiger auf meine Zeichen.
Ich laufe keuchend, so schnell ich kann, zum Einstieg in der
Wand. Die obere Lampe schwenkt auf meinen Kurs ein und kommt
langsam näher. Ich muss vorsichtig sein - ich habe ja nicht
mal die Schuhe zugebunden, geschweige denn Steigeisen an.
Als der Lichtschein noch 20 m weg ist, kommt mir ein entsetzlicher
Gedanke - vielleicht ist es gar nicht Jörg. Ich kann nur stammeln:
"Bitte, bitte, Alter, sag mir, dass Du es bist!" Ein Krächzen
antwortet: "Übelste Spalten, ich bin so oft reingefallen."
Es ist George - er ist wieder da - ich kann heulen. Wir tapsen
zum Zelt. Aus dem Funkgerät ruft verzweifelt Meutz, der sofort
glücklich klingt, als er von der Rückkehr erfährt. Als ich
Jörgs Gesicht sehe, erschrecke ich zutiefst. Noch nie habe
ich so einen erschöpften Menschen gesehen. George sieht gut
und gerne wie 100 Jahre alt aus. Ich frage vorsichtig und
- ja, es ist wahr, er war auf dem Gipfel. Wir haben es geschafft.
Nach fünf Jahren ist der große Traum Wirklichkeit geworden.
Es ist mir schon klar, dass ich in dieser Nacht nicht weiter
nach oben klettern kann. George braucht Pflege - er kann sich
nicht mal selbst ausziehen, vom Kochen ganz zu schweigen.
Und morgen muss er soweit wie möglich runter. Aber egal -
wir waren oben, ganz oben, nach fünf Jahren. Wir haben nicht
aufgegeben, und alle haben wir unseren Beitrag dazu geleistet.
Wir können stolz sein! Soweit der Bericht über die erste Gipfelgruppe.
Über die folgenden Tage werde ich erst ausführlich in Kathmandu
berichten können, denn hier beginnt schon das Einpacken und
somit habe ich nicht mehr genug Strom zum Schreiben und Senden.
Deshalb nur ganz kurz die letzten Meldungen. George und Götz
steigen in drei Tagen ins Basislager ab, das sie am 25. 5.
erreichen. Thomas ist schon am 23. 5. von Camp 3 bis ins Basecamp
abgestiegen. Ole und ich steigen wie geplant auf: am 22. 5.
Camp 2, am 23. 5. Camp 3 und tags darauf Camp 4. Aber der
geplante Gipfelversuch wird vom die ganze Nacht anhaltenden
Wind, aber entscheidend von einem zu unserer Startzeit um
23 Uhr aufziehenden Gewitter verhindert. Das Wetter am nächsten
Morgen sieht alles andere als verheißungsvoll aus, und der
Wind bläst noch wie verrückt. Traurig und enttäuscht steigen
wir noch am selben Tag bis ins Basislager ab. Doch dort kommt
auch Freude auf.
WIR
HABEN ES GESCHAFFT, WIR ALLE, DER GIPFEL DES MOUNT EVEREST
WURDE ERREICHT. ALLE SIND GESUND.
Jetzt
geht's etwas hektisch zu. George und ich verlassen schon morgen
das Basislager, die anderen übermorgen. Wir werden uns dann
aus Kathmandu melden.
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Herzlichste
Grüße aus dem Basislager senden Frank und das Team.
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