Seit fünf Jahren feiert Götz seinen Geburtstag im Himalaya
Blick zum Everst mit dem gewaltigen Khumbu-Eisbruch davor.


08.06.2001 Die Besteigung hautnah


Hallo liebe, treue Leser, wir sind wieder alle unten, gesund und erfolgreich. Der Gipfel des Everest wurde erreicht, die zweite deutsche sauerstofflose Besteigung, die erste sächsische, die erste ostdeutsche. Mehr dazu im folgenden Text. Götz erinnert sich an die entscheidenden Tage:


Götz Wiegand 20. 5. 2001:
Wieder einmal habe ich Geburtstag, und wie immer in den letzten fünf Jahren klettere ich im Himalaja und verschiebe die Feier auf später im Basislager oder nach Kathmandu oder nach Dresden. Vor genau fünf Jahren auf der Nordseite des Everest, kam an diesem Tag das Fax von der Weltwetterwarte aus Greenwich und versprach Windstille bis zum 25. Mai in Gipfelnähe. Euphorisch brachen wir auf, retteten einem Japaner das Leben und mussten in ca. 8 500 m aufgeben.

Ein Jahr darauf verschwand unser gesamtes Expeditionsbudget in den Taschen der dubiosen "Berggeschäfte-Macher" vom IMC. Nun der dritte Anlauf zum höchsten Punkt der Welt. Von der Truppe von 1996 sind außer mir noch Thomas Türpe und Jörg Stingl dabei. Und an diesem Tag wollen wir von Lager 2 nach Lager 3 durch das untere Drittel der Lhotse-Flanke klettern. Beim Abmarsch aus Lager 2 werden wir vom Leiter einer indischen Militär-Großexpedition angehalten. Wieviele Sherpas wir hätten und ob wir wüssten, dass am Südostgrat nur bis ca. 8 400 m, also bis zum sogenannten Balkon, brauchbare Fixseile liegen würden. Außerdem sei der Schnee an vielen Stellen hüfthoch.

Es ist das alte Problem, die großen Expeditionen mit riesigen Budgets, zahlreichen Sherpas und jeder Menge Sauerstoff-Flaschen, Inder, Amerikaner und internationale Kommerzielle belauern sich seit Wochen argwöhnisch. Niemand will die Route eröffnen, damit den Konkurrenten den Weg ebnen, selbst vielleicht Kraft verlieren und dann beim entscheidenden Wetterloch zu spät kommen. Allerdings verkennen alle nun die entscheidende Tatsache. Es zeichnet sich jetzt zum ersten und garantiert auch zum letzten Mal für dieses Frühjahr eine dreitägige Periode mit gutem Wetter ab. Also jetzt oder nie!

Wir setzen unsere Pokergesichter auf und beginnen mit den Indern zu verhandeln. Wir haben weder Sauerstoff noch sollen unsere beiden Sherpas über das Lager 4 hinaus klettern. Notfalls werden wir den Grat eben ohne Fixseile klettern. 20 m "Strick" haben wir einstecken. Aber mit einer starken Gruppe, die am selben Tag den Gipfel versucht zu steigen, ist natürlich unsere Chancen. Bei so einer Verhandlung, bei der man selber eigentlich überhaupt nichts zu bieten hat, ist Jörg Stingl einfach unersetzlich. Hier eine große Geste, dort eine clevere Miene, da ein bezauberndes Lächeln oder ein strenger Blick. Ich assistiere, so gut ich kann, und das Unmögliche gelingt. Ohne eigenes Personal stellen wir eine Truppe von elf Sherpas aus verschiedenen Expeditionen zusammen, die unter indischer Expeditions-Hoheit die Route zum Gipfel eröffnen sollen. Ein entscheidender Durchbruch ist gelungen. Danach klettern wir durch die Lhotse-Westwand in vier Stunden zum Lager drei. Der Wermutstropfen ist unser Unvermögen, das Nahrungsmittel-Depot, das wir vor zehn Tagen auf halbem Weg angelegt hatten, wiederzufinden. Hunger müssen wir trotzdem nicht leiden. In über 7 000 m Höhe essen wir alle nicht mehr allzu viel, und im Camp liegen noch ein paar Lebensmittel. Abends, schon im Schlafsack liegend, übermittelt mir Meutz viele Geburtstagsgrüße aus der Heimat. Wir hoffen auf gutes Wetter für die nächsten Tage.

21. Mai: Der Tag beginnt strahlend. Ab 9 Uhr sind wir unterwegs, durch den mittleren Teil der Lhotse-Westwand über Gelbes Band und Genfer Sporn hinauf zum höchsten Pass der Erde, dem Südsattel zwischen Everest und Lhotse. Es sind schon eine ganze Menge Leute unterwegs, und viele nehmen bereits ab Lager 3 Sauerstoff. Zu unserer großen Freude können wir tempomäßig sowohl mit den Sauerstoff-Atmern als auch nunmehr mit vielen Sherpas, deren Überlegenheit in den unteren Regionen hier oben doch deutlichen Ermüdungs-Erscheinungen Platz macht, mithalten. Gegen Mittag haben wir bei gutem Wetter den letzten Anstieg hinauf zum Genfer Sporn bewältigt. Von hier zieht die Route nur noch sanft ansteigend zum Südsattel. Sofort erfasst uns der Wind, es wird in Minutenschnelle sehr kalt, und wir müssen die Daunenjacken anziehen. Im Sattel treffen wir auf unseren Sherpa Lhakpa, der auf dem Südsattel unseren Weg nach oben überwachen und in Notfällen Hilfe leisten soll. Er wird in der Nacht Sauerstoff atmen und hat bereits eines unserer beiden Zelte aufgebaut. Leider falsch - und so fechten wir in den nächsten beiden Stunden mit dem immer stärker werdenden Sturm einen harten Kampf um unsere beiden Zelte aus, ehe sie fest verankert sind. Mir kommen immer stärkere Zweifel, ob bei solchem Wetter eine sauerstoff-freie Begehung des höchsten Berges der Erde überhaupt möglich ist. Irgend ein Kletterer hat mal geschrieben: " . . . falls es einen unwirtlicheren Platz auf Erden, als den Südsattel am Everest gibt, dann möchte ich diesen nie kennenlernen." Dem kann ich nur zustimmen. Als ich mich ein wenig von unseren Zelten entferne, einem menschlichen Bedürfnis folgend, stolpere ich wenige Meter entfernt über einen toten Bergsteiger, der schon sehr, sehr lange dort liegt. Niemanden, mich eingeschlossen, scheint das besonders zu kümmern. Am Everest gehört der Tod wohl sehr eng zum Bergsteigen dazu. Im Zelt beginnen die Vorbereitungen zum Aufstieg. Wir wollen gegen 23 Uhr los und müssen noch viel kochen. Flüssigkeit ist immens wichtig. Je mehr, umso besser. Mich beunruhigt nach wie vor der starke Wind, außerdem fühle ich mich irgendwie unwohl. Starker Husten (Okay, den habe ich immer an einem Achttausender), leichte Kopfschmerzen und ein Gefühl, dass es nicht richtig für mich ist, in dieser Nacht loszugehen. Ich beschließe vorerst, auf den Aufstieg zu verzichten. Thomas und Jörg schauen nicht gerade glücklich drein, als ich ihnen meinen Entschluss mitteile.

Frank Meutzner über den 21. Mai, abends, und den 22. Mai "Beobachter": Thomas und George brechen trotz starkem Wind gegen 23.30 Uhr auf, nachdem es Thomas gelungen ist, Sherpas und Kletterer zeitlich zu koordinieren. Sie hoffen, dass sich der Wind noch legen wird. Im Windgeheul steigen sie hinter anderen Expeditionsteilnehmern hinterher, die alle Sauerstoff benutzen, die anfangs flachen Schneefelder, die dann in eine teile Rinne münden. Die beiden arbeiten sich in mehreren Stunden die Schneefelder und dann die steile Rinne zum Grat hoch. Die Stelle wird auch als Balkon bezeichnet, ca. 8 400 m hoch. Danach geht es nahe beim Grat über Schneefelder entlang zum Südgipfel, der mit ca. 8 750 m angegeben wird. Gegen 13 Uhr erreichen sie diesen Punkt. Schon über zwölf Stunden sind sie jetzt unterwegs. Thomas entscheidet sich an diesem Punkt zur Umkehr. Obwohl es nur noch ca. 80 Höhenmeter bis zum Gipfel sind, ist es noch ein weiter Weg über den jetzt flachen Grat. Er rechnet noch mit vier bis fünf Stunden bis zum Gipfel. Doch er will seinen Aufenthalt in der lebensgefährlichen Höhe nicht länger als geplant ausdehnen. Eigentlich wollten sie zu dieser Zeit schon auf dem Gipfel sein. Und so entscheidet er sich für den bestimmt schwereren Weg - zur Umkehr. Jörg, der den ganzen Tag schon das Wetter beobachtet hat, ist der Meinung, dass an diesem Tag ein gutes und stabiles Wetter herrscht. Ein Wetter, wo man die Umkehrzeit ignorieren kann. Noch dazu weiß man nicht, ob sich noch einmal so eine Möglich bietet. Fünf Jahre hat er auf diese zweite Möglich gewartet und will nun ganz nach oben, obwohl die Vernunft eigentlich zur Umkehr raten würde. Endlich gegen 17 Uhr erreicht er den Gipfel. Es beginnt schon zu dämmern. Nur für einen kurzen Moment betritt er den Gipfel. Von überschwänglicher Freude kann nicht die Rede sein, eher von Angst, den Abstieg bis ins sichere Lager zu schaffen. Und es geht nur langsam abwärts, Schritt für Schritt, Meter für Meter. Weit unten leuchten die Lichter im Camp 4, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und bald hat ihn die Dunkelheit völlig ein. Thomas ist inzwischen noch bis ins Lager 3 abgestiegen. Ole und ich sitzen im Lager 2 und verfolgen über Funk die dramatische Entwicklung. 15 Uhr gab es letzten Funkkontakt mit Jörg und unsere Angst, dass etwas passiert ist, wird immer größer. Aber Jörg ist so mit dem Abstieg und dem Ziel beschäftigt, das Camp zu erreichen, dass er das Funken einfach vergessen hat. Und so sitzen wir verzweifelt in Camp 2 und Götz da oben - und wir hoffen und hoffen. Götz beschreibt den Gipfeltag und die dramatischen Stunden wie folgt, 22. Mai 2001: Ich liege seit Stunden im Zelt in Lager 4 in fast 8 000 m Höhe. Kochen, trinken, kochen, trinken . . . Gegen morgen am 22. Mai hat der Wind stark nachgelassen. Ich bin sehr optimistisch. Am Morgen habe ich Lhakpa nach unten geschickt. Er hat die Nacht über zwar Sauerstoff geatmet, aber heute morgen sah er im Gesicht derartig wächsern aus, dass ich sehr erschrocken bin. Husten und Kopfschmerzen waren weitere beunruhigende Anzeichen, und so sollte er so schnell und so weit wie möglich absteigen.

Die ersten Kletterer kommen nun zurück, alle mit Sauerstoff, und niemand hat es geschafft. Die Sherpas haben nur bis zum Südgipfel gespurt und gefixt und waren dann zu erschöpft. Ich habe regelmäßig aller zwei Stunden Funkkontakt mit Thomas und Jörg. Der letzte Kontakt erfolgt gegen 15 Uhr. Jörg erklärt mir, er sei nicht mehr weit weg vom Gipfel, aber Thomas sei umgekehrt, am Südgipfel auf ca. 8 700 m schon vor über einer Stunde. Er selbst wolle noch etwas weiter klettern, es gäbe genug alte Fixseile. Jörg klingt sehr müde, er ist allein und ich bin sehr angespannt. Wir vereinbaren stündliche Funkzeiten. Kaum haben wir das Gespräch beendet, taucht Thomas am Zelteingang vom Lager 4 auf. Ich habe Tee fertig, Thomas trinkt und erzählt mir von seinem Entschluss, am Südgipfel umzukehren. Er fand es einfach zu spät und wollte, dass auch Jörg mitkommt und dass beide nicht in die Nacht kommen. Von der Höhe her hätten beide wohl den Everest ohne Sauerstoff drauf gehabt. Thomas steigt ins Lager 3 ab, und ich beginne mit Packen. Es ist inzwischen nahezu windstill, und ich will gegen 21 Uhr mit den Sherpas einer spanischen Expedition nach oben aufbrechen. Stündlich rufe ich Jörg per Funk. Das Basislager sowie Meutz und Ole, die inzwischen in Lager 2 eingetroffen sind, hören mit und sind genauso beunruhigt wie ich: George meldet sich nicht! Die Sonne sinkt immer mehr zum Horizont, es wird empfindlich kalt. Da taucht ein Punkt in der Wand oberhalb Lager 4 auf und wird rasch größer. Aus der Nähe gesehen, schwinden jedoch meine Hoffnungen. Es ist nicht George. Als ich den fremden Bergsteiger anrufe, um nach Jörg zu fragen, winkt er nur ab und taumelt zu seinen Zelten. Meine Unruhe steigt von Minute zu Minute. Was tun? Ich gehe hinüber zu den Zelten des letzten Bergsteigers. Die Sonne versinkt. In den Zelten sind alle sehr erschöpft, nur ein Sherpa, der den ganzen Tag gewartet hat, gibt mir Auskunft. Ja, zwei seiner Leute wären heute als einzige auf dem Gipfel gewesen, beim Abstieg hätten sie noch einen Bergsteiger getroffen, der nach oben geklettert wäre. Ja, er hätte eine rote Jacke an, und er hätte keine Sauerstoffmaske auf. Ich gehe zurück. Es wird finster. Alle halbe Stunden habe ich Funkkontakt zu Meutz. Mit ängstlichen Stimmen versuchen wir uns zu beruhigen. Dazwischen wärme ich immer wieder Tee auf und starre den Everest an, bis mir die Augen weh tun. Im letzten Tageslicht glaube ich weit oben eine winzige Gestalt auszumachen - oder war es eine Täuschung? George kommt nicht. 20 Uhr bin ich voller Angst. Wenn er zu erschöpft ist, zu lange Pausen macht, sich dabei hinsetzt, einschläft . . . Ich räume meinen sorgsam gepackten Rucksack aus - scheiss auf den Gipfel - und packe ihn neu. Sauerstoff, ein Stück Seil, viel zu trinken, Batterien für die Stirnlampe, Medikamente. Ich informiere Meutz, dass ich gleich zur Suche aufbrechen werde. Da, während des Gesprächs, sehe ich den Schein einer Stirnlampe in der Everest-Wand. Das Funkgerät fällt mir scheppernd aus der Hand. Die Lampe ist viel zu weit links. Dort ist keine Route, sind nur Steilabbrüche, Blankeis und Spalten. In Unterwäsche und Überschuhen stürze ich, mit der Stirnlampe bewaffnet, in die minus 25 Grad kalte Nacht hinaus. Zum Glück reagiert der Bergsteiger auf meine Zeichen. Ich laufe keuchend, so schnell ich kann, zum Einstieg in der Wand. Die obere Lampe schwenkt auf meinen Kurs ein und kommt langsam näher. Ich muss vorsichtig sein - ich habe ja nicht mal die Schuhe zugebunden, geschweige denn Steigeisen an. Als der Lichtschein noch 20 m weg ist, kommt mir ein entsetzlicher Gedanke - vielleicht ist es gar nicht Jörg. Ich kann nur stammeln: "Bitte, bitte, Alter, sag mir, dass Du es bist!" Ein Krächzen antwortet: "Übelste Spalten, ich bin so oft reingefallen." Es ist George - er ist wieder da - ich kann heulen. Wir tapsen zum Zelt. Aus dem Funkgerät ruft verzweifelt Meutz, der sofort glücklich klingt, als er von der Rückkehr erfährt. Als ich Jörgs Gesicht sehe, erschrecke ich zutiefst. Noch nie habe ich so einen erschöpften Menschen gesehen. George sieht gut und gerne wie 100 Jahre alt aus. Ich frage vorsichtig und - ja, es ist wahr, er war auf dem Gipfel. Wir haben es geschafft. Nach fünf Jahren ist der große Traum Wirklichkeit geworden. Es ist mir schon klar, dass ich in dieser Nacht nicht weiter nach oben klettern kann. George braucht Pflege - er kann sich nicht mal selbst ausziehen, vom Kochen ganz zu schweigen. Und morgen muss er soweit wie möglich runter. Aber egal - wir waren oben, ganz oben, nach fünf Jahren. Wir haben nicht aufgegeben, und alle haben wir unseren Beitrag dazu geleistet. Wir können stolz sein! Soweit der Bericht über die erste Gipfelgruppe. Über die folgenden Tage werde ich erst ausführlich in Kathmandu berichten können, denn hier beginnt schon das Einpacken und somit habe ich nicht mehr genug Strom zum Schreiben und Senden. Deshalb nur ganz kurz die letzten Meldungen. George und Götz steigen in drei Tagen ins Basislager ab, das sie am 25. 5. erreichen. Thomas ist schon am 23. 5. von Camp 3 bis ins Basecamp abgestiegen. Ole und ich steigen wie geplant auf: am 22. 5. Camp 2, am 23. 5. Camp 3 und tags darauf Camp 4. Aber der geplante Gipfelversuch wird vom die ganze Nacht anhaltenden Wind, aber entscheidend von einem zu unserer Startzeit um 23 Uhr aufziehenden Gewitter verhindert. Das Wetter am nächsten Morgen sieht alles andere als verheißungsvoll aus, und der Wind bläst noch wie verrückt. Traurig und enttäuscht steigen wir noch am selben Tag bis ins Basislager ab. Doch dort kommt auch Freude auf.

WIR HABEN ES GESCHAFFT, WIR ALLE, DER GIPFEL DES MOUNT EVEREST WURDE ERREICHT. ALLE SIND GESUND.

Jetzt geht's etwas hektisch zu. George und ich verlassen schon morgen das Basislager, die anderen übermorgen. Wir werden uns dann aus Kathmandu melden.


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Herzlichste Grüße aus dem Basislager senden Frank und das Team.

   
 

 

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